Open Source und Industrie 4.0: Ein Überblick

Bei Industrie 4.0 stehen häufig konkrete Use Cases im Mittelpunkt: Was passiert in einer smarten Fabrik? Wo kann künstliche Intelligenz (KI) in der Produktion eingesetzt werden? Welche neuen Entwicklungen gibt es zu Robotik oder rund um den digitalen Zwilling?

Sämtliche Anwendungen der modernen Produktion brauchen für ihre Umsetzung die passende Infrastruktur. Das betrifft sowohl die Hardware (z.B. Maschinen, Server, Sensoren…) als auch die Software (z.B. Betriebssysteme, Datenbank-Architektur…), die in Unternehmen zum Einsatz kommt. Insbesondere der Software-Bereich gewinnt Jahr für Jahr an Bedeutung – „Software is eating the world“ skandierte der amerikanische Investor Marc Andreessen bereits 2011.

Auch für produzierende Betriebe ist es essenziell, sich mit Software zu beschäftigen, um innovativ und damit international wettbewerbsfähig zu bleiben. Die produzierende Industrie beschäftigt sich daher vermehrt mit Software-Spezifikationen Lizenzfragen, Schnittstellen oder der Interoperabilität verschiedener IT-Systeme.

Dabei ein wiederkehrendes und zunehmend wichtiges Thema ist Open Source Software (OSS) und deren Einsatz in der Digitalisierung der Produktion. In der ExpertInnengruppe Forschung, Entwicklung und Innovation hat die Plattform Industrie 4.0 das Thema daher als Schwerpunkt aufgegriffen und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet: Vom Big Picture bis hin zur industriellen Anwendung.

Open Source Software: unterschätzter Impact

Open Source Software ist kein neues Phänomen, sondern begleitet die IT-Welt schon sehr lange. Vielfach wird OSS daher mit bekannten Projekten assoziiert, wie z.B. mit Linux-basierten Betriebssystemen. Lange galt OSS als idealistisch und wenig praktikabel. Das hat sich geändert: OSS hat im Laufe der letzten Jahrzehnte kontinuierlich an Bedeutung gewonnen.

Das weiß auch die Europäische Kommission, die zum Impact von Open Source eine eigene Studie durchgeführt hat. Deren Ergebnisse sind beeindruckend: Rund eine Milliarde Euro an Investitionen in OSS ermögliche eine Wertschöpfung von 65-95 Milliarden Euro in der europäischen Wirtschaft. Laut der Studie würde eine Steigerung der OSS-Entwicklungen um 10% das europäische BIP um 0,4% bis 0,6% erhöhen.

Dass die Kommission OSS als bedeutsam ansieht zeigt auch ihre eigene Open Source Strategy. Mit dieser fokussiert sie den Einsatz von OSS in der eigenen Organisation. Dabei werden unter anderem interne Kompetenzen aufgebaut. Zudem wurde ein eigenes „Open Source Programme Office“ als Anlaufstelle ins Leben gerufen.

Die Rolle technischer Communities: Beispiel FIWARE

Bei der Entwicklung von Open Source Software arbeiten Personen mit unterschiedlichen Fähigkeiten aus verschiedenen Organisationen an gemeinsamen Projekten. Entsprechend wichtig sind dabei der Austausch untereinander und das Community Management. Dies erfolgt häufig über gemeinnützige Konsortien bzw. Stiftungen („Foundations“, z.B. Eclipse, Apache oder Linux), die auch die langfristige Weiterentwicklung von Projekten sicherstellen.

Eine relevante europäische Initiative rund um OSS im Bereich Industrie 4.0 ist FIWARE. Die FIWARE Foundation ist 2016 aus einem europäischen Public-Private-Partnership zur Zukunft des Internets hervorgegangen und hat heute 420 Mitglieder. Bei FIWARE arbeitet man an einem technischen Framework, dessen Ziel der interoperable Austausch von Informationen ist. Insbesondere für Industrie 4.0 (Stichwort: Digitaler Zwilling) als auch für Smart Cities ist das ein wichtiges Thema. FIWARE-Software ist heute bereits im industriellen Einsatz, z.B. in der Prozessoptimierung in Zement-Werken.

Um Kräfte sinnvoll zu bündeln hat die FIWARE Foundation im September 2021 gemeinsam mit der Big Data Value Association, Gaia-X und der International Data Spaces Association die „Data Spaces Business Alliance“ gegründet. Deren Ziel ist die Unterstützung beim Aufbau von europäischen Data Spaces, Open Source Software spielt dabei eine zentrale Rolle.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

FIWARE erklärt

In Österreich ist u.a. die Wirtschaftsagentur Wien Mitglied der FIWARE Foundation. Sie organisiert regelmäßig öffentlich zugängliche Community-Treffen zu FIWARE, die auf der Website der Wirtschaftsagentur bekanntgegeben werden.

Open Source Software als Geschäftschance

OSS hat nicht nur gesamtgesellschaftliche Bedeutung, Unternehmen können OSS auch als individuelle Geschäftschance nutzen. Zu den Möglichkeiten im Business-Kontext tauscht man sich in der österreichischen Open Source Software Innovation Group (OSSBIG) und in der deutschen Open Source Business Alliance (OSB Alliance) aus.

Aktuell wird viel über die „digitale Souveränität“ Europas diskutiert, auf OSS aufbauende Geschäftsmodelle und Initiativen rücken hier zunehmend in den Mittelpunkt. Der „Sovereign Cloud Stack“ ist z.B. ein wichtiger Aspekt des Projekts Gaia-X – dieser wird von der OSB Alliance entwickelt und soll Cloud-Anbietern neue Möglichkeiten eröffnen.

OSS-Leuchttürme rund um Industrie 4.0

Industrie 4.0 fasst sehr unterschiedliche Technologien und Entwicklungen zusammen – genauso divers ist auch die Landschaft der OSS-Projekte im Umfeld der digitalen Produktion. Eine Navigationshilfe kann hier sehr nützlich sein, als solche könnte man wohl das Unternehmen Pragmatic Industries bezeichnen.

Eine (unvollständige) Auswahl spannender Projekte:

  • Apache PLC4X: offener Protokolladapter für die Kommunikation speicherprogrammierbarer Steuerungen (SPS)
  • Grafana: offene Software zur Visualisierung von Daten und zur Erstellung von Dashboards
  • Apache IoTDB und TimeScaleDB: offene Datenbanklösungen (siehe auch Abschnitt zu CrateDB)
  • Eclipse Hono: Adapter für den Datenaustausch zwischen unterschiedlichen Geräten und Protokollen
  • Eclipse ditto: offenes System zur Verwaltung digitaler Zwillinge
  • Eclipse hawkBit: OSS-Lösung für die Ausrollung von Updates
  • Eclipse ioFog: OSS, die Kubernetes auf Edge Devices ermöglicht
  • Eclipse Vorto: offenes Informationsmodell für die semantische Beschreibung von Assets

Mehr interessante Projekte und Initiativen zu OSS in der Industrie gibt es in Zukunft auch im Podcast „Open Source in der Industrie“ zu hören:

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von open.spotify.com zu laden.

Inhalt laden

Open Source Entwicklung: wie anfangen?

Wenn man sich als Unternehmen nun der Bedeutung von Open Source bewusst ist und potenziell eine Geschäftschance sieht: Wie gelingt der Einstieg in das Thema?

Der erste Schritt ist die Nutzung von Open Source Software. Wenn OSS einen Mehrwert stiften kann und/oder eine Alternative zu bestehenden Lösungen ist, dann ist deren Verwendung ein wichtiger Anfang. Der nächste Schritt vom Anwender zum Unterstützer ist auch einfacher, wenn man bereits Erfahrung mit der jeweiligen Software hat und weiß, was man sinnvollerweise beitragen kann. Die Mitarbeit bei Projekten, z.B. bei solchen des OSS-Spezialisten Red Hat, basiert häufig auf dem Prinzip der Meritokratie – man muss sich die Mitgestaltung verdienen. Anreize für die Mitarbeit sind zumeist mehr Einfluss in der jeweiligen Community, schnellere Prozesse und mehr Sichtbarkeit.

Natürlich kann man auch selbst Open Source Software entwickeln und eigene Projekt initiieren. In diesem Fall sollte man sich Gedanken darüber machen, welchen Mehrwert man anderen bietet und was man damit erreichen möchte (z.B. Geschäftsmodell, Kompetenzaufbau, „just for fun“…). Wichtig für erfolgreiche Projekte ist es, sowohl Mitstreiter als auch Anwender zu finden. Jedenfalls gilt bei Open Source: Offenheit führt zum Erfolg.

Praxisbeispiel: Frankenstein Automation Gateway

Wie ein erfolgreiches Open Source Projekt entstehen kann, lässt sich am besten an einem Praxisbeispiel veranschaulichen: dem Frankenstein Automation Gateway, made in Austria.

Am Anfang stand ein Business Need: Wie kann man einfach und „IT-friendly“ Daten aus der Automatisierung (OT) in die IT transportieren und in beinahe-Echtzeit weiterverarbeiten? Diese Frage stellte sich Andreas Vogler. Um sie zu beantworten, entwickelte er eine eigene Lösung, den Frankenstein Automation Gateway.

Der Frankenstein Automation Gateway kann an der Schnittstelle von IT und OT eingesetzt werden. Er nutzt die Datenabfrage- und Manipulationssprache GraphQL sowie MQTT um Daten aus verschiedenen Quellen (z.B. OPC UA Devices oder PLC4X-Devices) abzugreifen, verarbeitet diese beinahe in Echtzeit und speichert sie in eine Datenbank. Als Open Source Projekt ist der Gateway frei verfügbar und kann von verschiedenen Unternehmen kostenlos eingesetzt werden.

OSS und die Wissenschaft

Nicht nur für Unternehmen ist Open Source ein interessantes Thema – auch wissenschaftliche Einrichtungen nutzen OSS und arbeiten an deren Weiterentwicklung mit.

Eine solche Einrichtung ist das LIT Cyber-Physical Systems Lab der JKU in Linz. Dort beobachtet man den anfangs erwähnten Trend: Software beansprucht auch im Maschinenbau einen immer größeren Anteil der Entwicklungskosten. Für die Forschung ist es daher interessant, systematisch Möglichkeiten zur Reduktion des Programmieraufwandes zu finden. So passiert dies z.B. in der Norm IEC 61499 für die Industrie-Automatisierung. Das Projekt Eclipse 4diac arbeitet mit wissenschaftlicher Unterstützung an einer Open Source Infrastruktur, die auf dem genannten Standard basiert und die die Anwendung der Norm in der Industrie vereinfachen soll.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Prof. Alois Zoitl erklärt die Bedeutung von Software in der Industrie

Use Case: OSS in der Datenverwaltung und -verarbeitung

Bei Digitalisierungsmaßnahmen in Industriebetrieben kann der Umgang mit Produktions- und Prozessdaten eine Herausforderung sein. Nicht jede Datenbank eignet sich für die Verarbeitung großer Datenmengen in diversen Formaten. Eine mögliche Lösung für viele Produktionsbetriebe kommt aus Österreich und ist gleichzeitig als Open Source Software verfügbar: CrateDB ist eine offene Datenbanklösung, die auf die Bedürfnisse der Industrie optimiert ist.

Dass OSS für Industrie 4.0 ein erfolgreiches Instrument sein kann zeigt der Einsatz der CrateDB: Kosteneinsparungen, höhere Geschwindigkeiten (z.B. 250x schnellere Abfragen) bei der Datenverarbeitung und eine höhere OEE können durch einen Datenbankwechsel erreicht werden.

Die Community Edition der CrateDB ist unter der der Apache 2.0-Lizenz frei zugänglich und wird seit 2013 gemeinsam mit einer Anwender-Community entwickelt. Gleichzeitig bietet crate.io, das Unternehmen hinter der CrateDB, auch eine Enterprise-Lösung an und unterstützt beim Einsatz der Datenbank in der Cloud und auf Edge Devices.

Use Case: OSS im Industriekonzern

Auch bei führenden Industrieunternehmen werden Open Source Komponenten für die Entwicklung innovativer Lösungen eingesetzt. So nutzt Beckhoff Automation beispielsweise das Open Source Betriebssystem FreeBSD in seinen Produkten.

Bei Siemens setzt man auf verschiedene Open Source Lösungen. Das SIMATIC Industrial OS basiert beispielsweise auf Debian. Ros-Sharp ist eine Open Source Library für Roboter-Daten, die von Siemens bereitgestellt wird. Auch in der Eclipse Foundation arbeitet Siemens z.B. am Projekt Eclipse Thingweb federführend mit. Darüber hinaus wird OSS z.B. bei der Entwicklung von Proof of Concepts im Bereich der Sprach- oder Gestensteuerung eingesetzt.

Use Case: OSS in Künstlicher Intelligenz (KI)

KI-Lösungen greifen häufig auf offene Daten und auf frei verfügbare Software zurück. Wesentliche Bausteine und Werkzeuge, z.B. Machine Learning Frameworks wie TensorFlow oder PyTorch oder Frameworks zur Datenverwaltung wie Apache Hadoop, sind als Open Source Software verfügbar.

Einen Überblick zu „Machine Learning Tools & Platforms“ bietet das Unternehmen MLReef aus Niederösterreich. Den Überblick über verfügbare Services zu bewahren ist für das Unternehmen wichtig, da das Team von MLReef an einer „Open ML Ops Platform“ arbeitet. Über die Plattform können Unternehmen Machine Learning entwickeln und kollaborativ daran arbeiten:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

MLReef kurz erklärt

Open Source Software bietet viele Vorteile für produzierende Unternehmen (z.B. Transparenz & Governance, Kontinuität), kann aber auch Nachteile mit sich bringen (z.B. Gefahren bei kleinen Communities, geteilte Intellectual Property). Jedenfalls ist OSS in der Industrie angekommen – auch in Österreich.

Open Source und die Plattform Industrie 4.0

Nach zwei inhaltlich weitreichenden Veranstaltungen mit mehr als zehn Inputgebern bleibt die Erkenntnis, dass das Thema Open Source im Kontext von Industrie 4.0 eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Eine Ausweitung des Schwerpunkts und weitere Aktivitäten für 2022 sind somit bereits in Planung.

Wir bedanken uns bei allen Vortragenden:

  • Miguel Díez Blanco und Luis C. Busquets Pérez von der Europäischen Kommission
  • Ulrich Ahle von der FIWARE Foundation und Bernhard Schmid von der Wirtschaftsagentur Wien
  • Georg Hahn von OSSBIG und Peter Ganten von der OSB Alliance
  • Julian Feinauer von pragmatic industries
  • Jens Reimann von Red Hat
  • Alois Zoitl von der JKU Linz
  • Eva Schönleitner und Georg Traar von crate.io
  • Andreas Vogler von Siemens (und vom Frankenstein Automation Gateway)
  • Camillo Pachmann von MLReef

Außerdem bedanken wir uns bei Kapsch BusinessCom (Roland Ambrosch & Thomas Nenning) und Beckhoff (Walter Eichner & Balazs Bezeczky) für das Hosting unserer Veranstaltungen und bei allen Mitgliedern der Plattform Industrie 4.0 für die zahlreiche Teilnahme!

Die Sitzungen der ExpertInnengruppe Forschung, Entwicklung und Innovation sind für alle Mitglieder der Plattform Industrie 4.0 zugänglich. Sollte Ihr Unternehmen Mitglied, Sie aber nicht auf dem Verteiler der ExpertInnengruppe Forschung, Entwicklung und Innovation sein, melden Sie sich gerne bei michael.fellner@plattformindustrie40.at.

Sollten Sie noch kein Mitglied sein, freuen wir uns ebenfalls über Ihre Kontaktaufnahme!

Fotomontage durch den Autor, aufbauend auf Fotos von Carlos Aranda auf Unsplash und Larry Ewing (lewing@isc.tamu.edu).

Michael Fellner